Tove Ditlevsen: “Gesichter” – In die Abgründe der weiblichen Seele

Tove Ditlevsen schreibt in ihrem Roman "Gesichter" über eine Frau, die sich in eine Psychose zurückzieht, um vor der patriarchalen Gesellschaft zu fliehen.

Gesichter- Tove Ditlevsen

Gesichter ist trotz seiner Kürze ein intensiver und nahegehender Roman, der mich sehr beeindruckt hat. Ditlevsen schreibt über Lise Mundus, dreifache Mutter und preisgekrönte Kinderbuchautorin, die in einer handfesten Krise steckt. Ihr Mann Gert betrügt sie regelmäßig, außerdem leidet sie an einer Schreibblockade, hat seit über zwei Jahren kein Wort mehr zu Papier gebracht.


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Wahrnehmung und Realität driften komplett auseinander

Es beginnt mit Stimmen, die überall auftauchen, vor allem in Heizungsrohren. So glaubt Lise, ihren Mann und Haushälterin Gitte bei ihren Plänen zu belauschen, sie aus dem Weg schaffen zu wollen. Aus Verzweiflung nimmt sie alle Schlaftabletten im Haus und betätigt anschließend selbst den Notruf. Auf der Geschlossenen entwickelt Lise eine starke Psychose. Wahrnehmung und Realität driften komplett auseinander: Sie hört Stimmen aus Heizungsrohren, Abwassergittern, Kopfkissen, sieht überall Gesichter von Leuten, entwickelt Wahnvorstellungen, denkt z.B. ihr Essen sei vergiftet.


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Ditlevsen verarbeitet eigene Erfahrungen mit einer Psychose

Ditlevsen beschreibt die Flucht einer Frau aus ihrem Alltag als Ehefrau und Mutter. Die Psychose in all ihren Ausprägungen scheint ein symptomatisches Aufbäumen gegen die patriarchale Gesellschaft in den 1960er-Jahren zu sein, die Selbsteinweisung ist eine Art Befreiung von dem Druck, der auf ihr lastet. Ditlevsen lenkt aber auch den Blick auf fragwürdige Behandlungspraktiken psychisch kranker Menschen in der Zeit. Man kann überall in dem erstmals 1968 erschienenen Roman autobiographische Bezüge entdecken. Ditlevsen verarbeitete eigene Erfahrungen mit einer Psychose, was beim Lesen sehr ergreifend ist, weil man Einzelheiten der Wahrnehmungsstörung nuanciert miterleben kann, tief mit drin steckt. “Gesichter” ist beklemmend und abgründig, aber auch extrem packend, mich hat es als Ausdruck weiblicher Lebensrealität der Zeit nachhaltig begeistert. Große Empfehlung! 🙌.

Vielen Dank an den Aufbau Verlag für das Rezensionsexemplar.

 

 

Tove Ditlevsen

“Gesichter”

Aufbau Verlag

In der Neuübersetzung aus dem Dänischen von Ursel Allenstein

Erschienen am 14.02.22