Bettina Flitner – Meine Schwester
Bücher wie dieses hier sind wirklich wunderbar. Bücher, die einen gänzlich überraschen, die einen ganz unerwartet für sich einnehmen und sich am Ende als echtes Highlight erweisen. Die einen selbst dann nicht loslassen, wenn die letzte Seite zugeklappt ist. Auf das Buch bin ich durch Zufall gestoßen und war nach der Lektüre tief berührt, musste das Gelesene lange nachwirken lassen, bis ich Worte dafür finden konnte.
Bettina Flitners Schwester beging 2017 Selbstmord
Bettina Flitner, Fotografin und Ehepartnerin von Alice Schwarzer, schreibt über ihre ältere Schwester Susanne, die 2017 Selbstmord beging. Sie schreibt über die Schockstarre nach dem Suizid, über die Verzweiflung, über die Trauer, das tut sie aber fein nuanciert und wohldosiert. Eigentlich ist es vielmehr die Geschichte einer westdeutschen Kindheit und Jugend. Flitner erzählt von den ersten Jahren in Hannover, vom Jahr in New York, der Zeit danach in Köln. Sie spricht auch vom Selbstmord der Mutter, als die Schwestern in ihren 20ern waren. Sie erzählt von Ami und Api, von Cousinen und Kindheitsfreund*innen. Aber bereits in der Jugend machen sich Unterschiede aus. Susanne wird dazu angehalten, sich beim Essen zurück zu halten, hat Lernschwierigkeiten in der Schule, bleibt sitzen, wechselt die Schule.
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Im Erwachsenenalter driften die Wege der Schwestern ziemlich auseinander. Bettina geht zunächst zum Film, später startet sie als Fotografin durch, ungefähr zeitgleich mit dem Fall der Mauer 1989. Susanne hingegen hat Probleme, sich beruflich zu etablieren. Sie arbeitet lange als Fitnesstrainerin, erkrankt an einer Depression. Später übernimmt sie die Leitung eines Klamottenladens, kurz vor dem Suizid ist sie arbeitslos.
Flitners Erzählung ist ein behutsames Annähern
Flitners Erzählung ist ein behutsames Annähern, ein Versuch des Verstehens, ein Eintauchen in die gemeinsame Geschichte. Sie geht auf literarische Weise den Fragen nach, warum das Leben ihrer Schwester in diese Richtung gedriftet ist, warum sie Selbstmord begangen hat. Das Buch ist sowohl Memoir als auch Familienroman und Zeitzeugnis – und lebt von der Erinnerung an die verstorbene Schwester, aber auch von vielen anderen Aspekten. Das Buch berührt auf zahlreichen Ebenen, ist unfassbar liebevoll geschrieben und das ist auch das Besondere: Man spürt Flitners tiefe Zuneigung auf jeder Seite, aber auch, wie sie sich durch das Erzählen ein Stück weit von allem befreit. Ich habe es verschlungen und wirklich sehr geliebt. Ein echtes Überraschungs-Highlight. ❤️
Bettina Flitner
“Meine Schwester”
Kiepenheuer & Witsch
Erschienen am 10. Februar 2022