Elina Penner: “Nachtbeeren” – Die verzweifelte Suche nach Zugehörigkeit

Elina Penner erzählt in ihrem Debütroman "Nachtbeeren" von der verzweifelten Suche einer jungen Frau nach Zugehörigkeit. Abgründig und mit dunklem Humor erzählt.

Elina Penner –  Nachtbeeren

Viele Leute halten Nachtbeeren für giftig, in Russland werden die reifen Früchte trotzdem gegessen – mit ganz viel Zucker. Eine Tradition, die die Spätaussiedler-Familie von Nelli mitgebracht hat, als sie Anfang der 1990er Jahre nach Ostwestfalen kam. Die Nachtbeer-Wreneces stehen jeden Sonntag auf dem Tisch, wenn die Familie zusammenkommt,  Nelli und ihre Brüder sich versammeln, essen und trinken. 

Nelli sitzt dort meist als stille Beobachterin und mäandert in ihren Gedanken. Sie ist Mitte 30 und seit 15 Jahren mit Kornelius verheiratet, der ebenfalls aus einer Spätaussiedlerfamilie stammt. Nelli ist sehr einsam in ihrem Hausfrauendasein, in ihrem Beruf als Fleischerin hat sie nicht mehr gearbeitet, seit ihr 15-jähriger Sohn Jakob auf der Welt ist. Zuflucht findet sie vor allem in der mennonitischen Gemeinde, der sie sich seit dem Tod ihrer geliebten Öma sehr zugewandt hat. 


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Auf Nellis verletzter Seele lastet ein enormer Druck

Als fünftes Kind und Nachzüglerin der Familie, hatte Nelli es nie leicht. Auch die Umsiedlung nach Deutschland erschwerte alles. Als Kind erfuhr sie Ausgrenzung in der Schule, aber auch innerhalb der eigenen Familie gab es kaum Verständnis ihre Essstörung. Die frühe Heirat sollte eine Art Ausweg sein, der sich nicht erfüllt hat. Als sie erfährt, dass Kornelius sich in eine andere Frau verliebt hat, wird der Druck auf ihrer verletzten Seele zu groß…

Nellis Rückzug ins Innerste zu beobachten ist sehr ergreifend. Es ist ein Kampf, den sie gegen sich selbst führt, und es geht um nichts weniger als um ihr Überleben, darum, endlich den Platz zu finden, wo sie hingehört. Dabei lasten nicht nur eigene Traumata auf ihr, sondern auch die der russlanddeutschen Community, die unter Sowjet-Herrschaft Zwangsarbeit, Verfolgung und Gewalt ausgesetzt waren und in Deutschland ebenfalls vor allem Ausgrenzung erlebten. 


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Subtil bedrohlich entfaltet sich die Geschichte nach und nach

Elina Penners Debütroman hat sein ganz eigenes Innenleben. Subtil bedrohlich entfaltet sich nach und nach die Geschichte, schiebt Vermutungen zwischen die Zeilen, leichte Thriller-Ambitionen drängen sich auf. Außerdem erfährt man viel über die erste Zeit der Spätaussiedler-Familie in Deutschland, über das Fremdsein, über die kulturellen Unterschiede, die sich nicht einfach abschütteln lassen. Immer wieder sind plaudietsche Wörter eingeflochten, eine Sprache, die die Aussiedler mitgebracht haben. 

Nachtbeeren zeigt den Überlebenskampf einer Frau und ihre verzweifelte Suche nach Zugehörigkeit, für die sie krasse Grenzen überschreitet. Elina Penner vereint  höchstinteressante Aspekte und einen abgründigen Humor zu einem absolut faszinierenden und fesselnden Leseerlebnis. Den vielen begeisterten Stimmen zum Roman kann ich mich voll und ganz anschließen, was für ein großartiges Buch. 💙

 

Elina Penner

“Nachtbeeren”

Aufbau Verlag

Erschienen am 14.03.2022