Rachel Cusk – Der andere Ort
Rachel Cusk schreibt in ihrem neuen Roman “Der andere Ort” über eine Frau mittleren Alters, bezeichnet mit der Initiale M, die mit ihrem Mann auf einem abgelegenen Hof im Marschland lebt. Das Ehepaar hat eine kleine Hütte hergerichtet, um Künstler*innen eine Unterkunft für ihr Schaffen zu geben. Die Erzählerin lädt L ein, einen Maler, dessen Werk sie als junge Frau in Paris sehr fasziniert und das für einige Veränderungen in ihrem Leben gesorgt hat.
Die Szenerie offenbahrt ein Netz aus Eifersucht und Abhängigkeiten
M dürstet es nach der Aufmerksamkeit von L, doch ausgerechnet sie ignoriert er konsequent. Er verhält sich auch sonst überheblich und unhöflich, egoistisch und zerstörerisch. L hat seine Geliebte dabei, eine junge Frau namens Brett, die sich mit Justine, der erwachsenen Tochter der Erzählerin anfreundet. Kurt, der Boyfriend von Justine, stürzt sich aus Eifersucht in die Schriftstellerei, will urplötzlich ein ganzes Buch schreiben. Während die Frühlingstage ungewöhnlich warm werden, bilden sich ungute Dynamiken. Es dauert nicht lange, bis die Szenerie ein Netz aus Eifersucht und Abhängigkeiten offenbahrt.
Die Gedanken der Erzählerin sind tief philosophisch
Wahrheit, Wirklichkeit, Schicksal, Wahrnehmung – die Gedanken der Erzählerin sind tief philosophisch. Thematisch widmet sich vor allem der Kunst, dem Schreiben und dem menschlichen Dasein an sich. M sucht Inspiration und Freiheit, etwas, was sich ihr nicht einfach so einstellt. Sie analysiert auch frühere Erlebnisse und stellt klar, wie sehr Frauen ihrem Schicksal unterliegen, es nie dorthin zu schaffen, wo Männer sind. Stattdessen immer nur zu dem von ihr so bezeichneten “Anderen Ort” gelangen. Ihre Unterwürfigkeit bzw. Abhängigkeit von Männern wird sehr deutlich und wirkt fast ein bisschen antiquiert. Trotzdem ist es ein Zustand, der nicht sehr weit entfernt ist und aus dem sich Frauen immer noch nicht komplett befreit haben.
Frauen bringen keine Selbstverständlichkeit in ihr Dasein
Anhand der Darstellungen von M und L zeigt Cusk auf das immer noch in Stein gehauene Selbstverständnis hin, mit dem Männer sich durch die Welt bewegen. Im Gegensatz dazu präsentiert M das immer noch wackelnde Selbstbild der Frauen, die oft extrem selbstkritisch mit sich sind und keine Selbstverständlichkeit in ihr Dasein bringen; immer auf der Suche nach ihrem Platz scheinen.
Ein merkwürdiges Element bringt Cusk rein, indem die Erzählerin den ganzen Roman hindurch immer wieder einen gewissen Jeffers anspricht. Es wird nicht aufgelöst, um wen es sich handelt (eventuell ist der US-amerikanische Dichter Robinson Jeffers (1887-1962) gemeint), genauso wenig wird aufgelöst, an welchem Ort und in welcher Zeit sich das Geschehen abspielt. Interessant ist auch, dass Cusk erstaunlich oft Ausrufezeichen im Text verwendet. Es ergibt sich deshalb manchmal das Gefühl, man würde einen alten Brief lesen. Ein kleinen Hinweis auf das Entstehen erhält man schließlich ganz hinten im Roman. Cusk gibt an, dass der “Der andere Ort” dank der Erinnerungen der Schriftstellerin und Mäzenin Mabel Dodge Luhan entstanden sei. In “Lorenzo in Taos” beschreibt Mabel Dodge Luhan (1879-1962) die Zeit, die der englische Schriftsteller D.H. Lawrence (1885-1930) in einer Künstlerkolonie in Taos, New Mexico verbracht hat.
Nominiert auf der Longlist des Booker Prize
Rachel Cusk ist dieses Jahr mit “Der andere Ort” (englischer Titel: Second Place) auf der Longlist für den Booker Prize gelandet. Vollkommen zurecht, denn sie hat ein kraftvolles, philosophisch-psychologisches Drama geschrieben, mit einer einzigartigen Erzählerinnenstimme, die einen nicht loslässt. Die Erzählung ist extrem intensiv, hoch entzündlich, stark geschrieben, manchmal ein bisschen weird und rätselhaft, hat aber auch feministischen Touch. Man gleitet auf der wunderbar atmosphärischen Sprache hindurch und hat mitunter das Gefühl, dass sich alle Seiten ausbreiten und einen umschließen. Wer philosophisch-künstlerische Romane liebt, bei dem wird Cusk mit ihrem Roman für ein intensives Lesevergnügen sorgen.
Rachel Cusk
“Der andere Ort”
Aus dem Englischen von Eva von Bonné
Suhrkamp
Erschienen am 01.11.21