Wenn Menschen mit Marginalisierungen in Romanen dargestellt werden, dann arbeiten sich Autor*innen teilweise immer noch an Klischees ab, die sich für Betroffene schrecklich anfühlen und oft jeglicher Realität absprechen.
Um dem entgegen zu wirken, gibt es das Sensitivity Reading. Im Gespräch erklärt Co-Initiatorin Elif Kavadar, worum es sich dabei handelt.
The Female Reader: Was genau kann man unter Sensitivity Reading vorstellen?
Elif Kavadar: Es handelt sich dabei um eine Art inhaltliches Lektorat, das aber kein normales Lektorat ersetzt. Es bezieht sich vielmehr auf bestimmte Aspekte, die Marginalisierungen in den Büchern darstellen. Man kann sich von Marginalisierungen betroffene Menschen dazuholen und den Text auf schädliche oder missverständliche Darstellungen und Mikroaggressionen prüfen lassen.
Euch wurde bereits vorgeworfen, ihr würdet damit zu sehr in Texte eingreifen.
Es geht beim Sensitivity Reading nicht ums Glattbügeln. Wenn die Diskriminierung an sich thematisiert werden soll, gehört sie auch ins Buch. Viele Autor*innen wollen keine diskriminierenden Inhalte in ihren Büchern haben, sind aber überfragt, weil sie die Lebensrealität nicht teilen, Wir bieten einfach eine Hilfestellung bzw. geben ein Angebot, das man sich dazuholen kann.
Wie seid ihr auf die Idee bekommen?
Ich war lange Zeit selbst Buchbloggerin und in der Buchbranche ganz gut vernetzt. Mir ist immer wieder aufgefallen, dass Autor*innen über Themen schreiben, die sie nicht wirklich beurteilen können und dass Inhalte in Romanen oft nicht wirklich korrekt dargestellt werden. Ich habe mich dann im englischsprachigen Raum inspirieren lassen, wo es so etwas wie das Sensitivity Reading bereits gab.
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Wie ist eure Plattform entstanden?
Ich habe damals auf Instagram einen Aufruf gestartet, um alle am Thema interessierten zu vernetzen. Victoria kam dazu und hatte die Idee, eine Webseite zu erstellen, was wir dann getan haben. Mittlerweile ist unser Team auch gewachsen.
Wie sieht die Arbeit mit den Sensitivity Readern konkret aus?
Wenn man beispielsweise ein Buch geschrieben hat, in dem eine Person vorkommt, die im Rollstuhl sitzt, man selbst aber nicht, und man möchte es gegengelesen haben, dann kann man auf unserer Seite bei den Sensitivity Readern nach Personen schauen, die dazu passen könnten. Dort haben wir verschiedene Personen, die diesen Erfahrungsbereich haben und die kann man dann direkt anschreiben.
Ihr bietet also verschiedene Dienstleistungen an?
Genau. Es gibt ganz verschiedene Arten von Sensitivity Reading. Man kann das ganze Buch lesen lassen oder einzelne Abschnitte, in denen die Marginalisierung vorkommt. Oder man lässt sich beraten, falls man eine Idee für ein Buch hat. In einem zweiten Schritt kann dann über die Vergütung gesprochen werden, wenn die*der Sensitivity Reader zusagt.
Wer genau sind die Menschen mit Marginalisierungen, von denen du sprichst?
Das sind u.A. Menschen, die Rassismuserfahrungen machen, die in einer queeren Lebensform leben, die eine Behinderung oder psychische Krankheit haben, Gewalterfahrungen erlebt haben oder mit Neurodiversitäten leben, wie etwa dem Asperger-Syndrom.
Wieso braucht man ein Konzept, wie ihr es entwickelt habt?
Da marginalisierte Menschen mittlerweile viel häufiger zu Wort kommen und an der Kultur teilhaben wollen und können, gibt es auch den Wunsch nach angemessener Repräsentation. Es geht darum, dass nicht nur andere über einen bestimmen und Stereotype reproduzieren. Wir leben in einer Gesellschaft, die zunehmend pluraler wird, in der Stimmen immer vielfältiger werden, und dieses Bedürfnis, das auch abzubilden, wird durch unser Konzept aufgefangen.
Wie wird euer Angebot angenommen?
Es wird auf jeden Fall mit der Zeit bekannter und immer wieder von Verlagen und Autor*innen in Anspruch genommen. Wir drängen nicht dazu, sondern bieten es an. Die Menschen, die Lust darauf haben, melden sich. Ich denke, dass es vielen, die Teil einer vielfältigen Gesellschaft sein wollen, ein Anliegen ist, dass ihre Inhalte andere nicht verletzen und frei von Diskriminierungen sind.
Elif Kavadar hat Germanistik und Geschichte studiert, arbeitet im Bildungsbereich und spricht als migrantische, muslimische Frau nicht nur über alltägliche Erlebnisse und Bücher, sondern auch über (erlebte) Diskriminierungen und versucht seit mehreren Jahren, dafür zu sensibilisieren. Gemeinsam mit Victoria Linnea hat sie die Plattform Sensitivity Reading ins Leben gerufen.