Nino Haratischwili – Das mangelnde Licht
Keto, Dina, Ira und Nene – es sind vier ganz unterschiedliche junge Frauen, die in der Rebengasse in Tiblissi Tür an Tür aufwachsen. Es ist die Zeit der Perestroika, die Sowjetunion ist dem Untergang geweiht, die neue Unabhängigkeit eine Chance für Georgien. Doch nur scheinbar, denn das Land versinkt in bürgerkriegsartigen Zuständen, die Bevölkerung leidet jahrelang. Oft gibt es kein Wasser, die Nahrungsmittel sind jahrelang knapp, immer wieder ist das Licht abgestellt. Der erste Präsident Georgiens nach Zerfall der Sowjetunion wird nach wenigen Monaten von einem Militärputsch entmachtet, Tbilissi wird immer wieder von Kämpfen erschüttert.
Keine einfachen Zeiten zum Erwachsenwerden
Es sind keine einfachen Zeiten zum Erwachsenwerden. Dina ist die eigenwilligste und unabhängige von ihnen, sie entscheidet sich gegen ein Studium und fängt nach der Schule an, als Fotografin zu arbeiten. Sie reist sogar nach Abchasien, um dort Fotos vom Krieg zu machen. Keto versucht alle zusammenzuhalten und traut sich nicht, ihr Talent zum Zeichnen weiterzuverfolgen. Stattdessen entscheidet sie sich schließlich Restauration zu studieren. Ira will Juristin werden und für ein besseres Land kämpfen. Für das Studium geht sie in die USA und lebt auch viele Jahre später dort als erfolgreiche Juristin. Nene hingegen ist vor allem an Männern interessiert, wird aber von ihrer mafiös verstrickten Familie immer wieder wahllos verheiratet.
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Waffen, Gewalt und Drogen werden einen nach dem anderen auffressen
Die Brüder und Freunde der vier wollen sich im Milieu der Straßengangs und der organisierten Kriminalität behaupten. Waffen, Gewalt und später auch Drogen gehören dazu und werden am Ende einen nach dem anderen auffressen. Ketos Bruder Rati landet im Gefängnis, Nenes Bruder wird aus Eifersucht von Rati angeschossen. Andere sterben oder fallen dem Heroin zum Opfer. Der einzige Weg für die Frauen, dem zu entkommen, ist der Weg raus aus Georgien. Keto geht nach Deutschland, Nene nach Moskau, Ira wird Anwältin in den USA. Dina allerdings bleibt in Tbilissi, was nicht gut für sie ausgehen wird. 2019 treffen sich Keto, Ira und Nene auf einer Retrospektive für Dinas Fotos in Brüssel, das erste Mal seit Jahren treffen die Freundinnen dort aufeinander und es kommen unsausgesprochene Konflikte hoch.
Nino Haratischwili hat ein majestätisches Werk geschaffen
Die Erzählung schlängelt sich durch die Jahre, verliert trotz Gewalt, Leid und Chaos nie den liebevollen Blick für alle Figuren im Hinterhof der Rebengasse. Die Autorin verwebt meisterhaft Freundschaft und Familie, Licht und Schatten, politische Umbrüche und private Neuanfänge, tiefstes Leid und größtes Glück. Nino Haratischwili hat ein majestätisches Werk geschaffen, in dem ich tagelang versunken bin und alles um mich herum vergessen habe, verschlungen von der Erhabenheit der Worte, hineingezogen von der monumentalen Erzählkunst. Dieses Buch ist ein Über-Highlight, ein sofortiger All Time-Favorite, eine literarische Offenbarung. Must Read des Jahres! ❤️
Nino Haratischwili
“Das mangelnde Licht”
Frankfurter Verlagsanstalt
Erschienen am 25. Februar 2022