Nina Kunz im Interview: “Ich fand das Existieren an sich nie selbstverständlich.”

Nina Kunz spricht im Interview über ihr Buch "Ich denk, ich denk zu viel", über das Unbehagen, dem ihre Texte oft entspringen und was Schreiben für sie bedeutet.

The Female Reader: Dein Buch “Ich denk, ich denk zu viel” ist im März erschienen und hat viele Leute sehr berührt. Magst du einmal beschreiben, worum es geht? 

Nina Kunz: Es sind dreißig Texte über die Gegenwart, die alle aus einem persönlichen Unbehagen heraus entstanden sind, was im Buch mit Theorien, Sekundärliteratur und anderen Büchern verwoben wurde. Die Themen sind sehr breit, es geht z. B. um Überidentifikation mit dem Job, den Druck, immer glücklich sein zu müssen, Geschlechterungleichheit und wie sie sich im Alltag niederschlägt. Es geht vom Großen ins Kleine und vom Kleinen ins Große.

 

“Ich fand das Existieren an sich nie selbstverständlich.”

 

Woher kommt dieses Unbehagen, von dem du sprichst?

Das Gefühl des Unbehagens zieht sich immer schon durch mein Leben hindurch. Ich fand das Existieren an sich nie selbstverständlich, sondern immer schon etwas crazy. Genauso wie ein Bewusstsein zu haben. Als Kind habe ich mich zum Beispiel gefragt: Warum habe ich ein Bewusstsein? Was soll das alles? Warum habe ich Füße?

Du hast dich also schon früh gefragt, was hinter allem steckt?

Mich hat das Gefühl des Absurden immer schon gereizt und angetrieben, aber auch in Angstzustände versetzt. Als ich klein war, habe ich einen Dokumentarfilm über das Sonnensystem geschaut und die Vorstellung, dass wir auf einer kleinen Kugel sitzen, die durchs Nichts saust, hat mich in Panik versetzt. Das Unbehagen kann eben zum Nachdenken führen, aber auch in Angst münden.

Hilft dir das Schreiben auch, damit umzugehen?

Ich habe mir das Unbehagen immer mit Sprache erschlossen. Die Dinge sind ein bisschen weniger unheimlich, wenn man sie benennen kann. Es war eben auch der Ansatz des Buches, mich diesem diffusen Gefühl zu stellen und Wörter dafür zu finden.


 

Nina Kunz versammelt in ihrem Essayband “Ich denk, ich denk zu viel” 30 Texte über die Gegenwart und das Unbehagen, das sie damit verbindet. Die Texte decken ein großes Themenspektrum ab, sind sehr aktuell und unterhaltsam.

Zur kompletten Rezension: Nina Kunz – Ich denk, ich denk zu viel


 

Kamen die Themen zu dir oder hast du sie dir herausgepickt?

Die Texte sind alle aus einer persönlichen Dringlichkeit entstanden. Wenn es ums Schreiben geht, habe ich eigentlich immer ein Thema, das die Hand hochhält und schreit: “Pick me!” Die drängen sich auf und dann muss ich über sie schreiben und verstehen, was die Themen von mir wollen.

Deine Themen reichen von Workism über patriarchale Strukturen bis hin zum Leistungsdruck. Was glaubst du, wieso erreichst du damit so viele Menschen?

Vielleicht genau, weil alle Texte aus einer ehrlichen Dringlichkeit heraus entstanden sind – und ich sehr viele Stunden investiere, um die Sprache möglichst präzise, verdichtet und zugänglich zu halten.

Sehr berührend ist die Erzählung, in der du über die Suche nach deinem Vater sprichst, den du noch nie gesehen hast.

Die eine Sache, bei der ich offensichtlich nicht der Norm entspreche, ist die Tatsache, dass ich mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen bin und nicht in einer bürgerlichen Kleinfamilie. Ich habe gemerkt, wie anstrengend es ist, sich dazu immer verhalten zu müssen. Die Leute haben Erwartungen, wie das ist, viele denken, es ist total schlimm. Mir wurden Narrative aufgedrückt, die sich nicht mit meinem subjektiven Empfinden gedeckt haben.

© Yves Bachmann

“Ich wünschte mir, es gäbe mehr Sichtbarkeit für Erzählungen, die von der Schablone abweichen und neue Nuancen zulassen.”

 

Wolltest du mit der Erzählung für dein eigenes Narrativ sorgen?

Ich habe eine sehr starke und tolle Mutter. Ich wusste gar nicht, dass mir etwas fehlt. Aber es gab zum Beispiel Formulare für Stipendienanträge, die haben nicht funktioniert, weil ich keine Angaben zu meinem Vater hatte. Es kam immer eine Fehlermeldung, im Sinne von: Nein sorry, deine Realität ist nicht legitim. Das hat sehr früh meine Augen dafür geöffnet, wie Normen – wenn auch nur im Kleinen – funktionieren und exkludieren.


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Die Erzählung war vor zwei Jahren auch die Titelgeschichte im ZEITmagazin.

Genau. Und es war mir wichtig, diese Geschichte als eine versöhnliche zu schreiben und nicht als dramatische. Und dann kamen ganz viele Rückmeldungen von Leuten, die auch in unüblichen Familienkonstellationen aufgewachsen sind, die meinten: Oh, bei mir war das ähnlich. Daher: Ich wünschte mir allgemein, es gäbe mehr Sichtbarkeit für Erzählungen, die von der Schablone abweichen und neue Nuancen zulassen.

Möchtest du mit deinen Texten auch eine andere Normalität gestalten?

Die Frage, was wir für normal halten, zieht sich natürlich durchs Buch und ich hoffe, dass sich auch Leser*innen diese Frage stellen. Ich versuche, das mit meinen Experiences zu verweben. Mich stört im Moment, dass alle sagen, wir müssten nach der Pandemie zur Normalität zurückkehren. Dabei war die Normalität, die geherrscht hat, ausbeuterisch gegenüber dem Planeten, es ist eine Welt, die alle möglichen strukturellen Ungleichheiten begünstigt hat.

 

“Mein Deal mit mir selbst ist, dass ich es jeden Tag versuche. Das finde ich realistisch.”

 

Wo findest du selbst Inspiration?

Ich bin ein großer Fan von Essays. Das Wort kommt vom französischen essayer ‘versuchen’. Mein Deal mit mir selbst ist, dass ich es jeden Tag versuche. Das finde ich total realistisch. Ich lese aber auch sehr gerne Essays, ich liebe z. B. die Bände von Leslie Jamison und Samantha Irby. Zu Hause habe ich wirklich überproportional viele Essaybände.

Gibt es bereits Pläne für ein nächstes Buch?

In meinem Kopf gibt es schon Pläne, auch wenn ich lange an diesem Buch gearbeitet habe, weil ich sehr langsam schreibe. Ein Essayband würde mich total reizen, manchmal denke ich aber auch, es wäre schöner, nicht mehr über mich selbst zu schreiben, weil ich mich eigentlich nicht so interessant finde, sondern lieber andere Geschichten zu erzählen.

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Nina!

 

© Yves Bachmann

Nina Kunz wurde 1993 geboren, studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Zürich und arbeitet seit 2017 als Kolumnistin und Journalistin für Das Magazin des Tagesanzeigers. Ihre Texte erschienen bereits in der Neuen Zürcher Zeitung, der ZEIT und dem ZEITmagazin. 2018 und 2020 wurde sie zur “Kolumnistin des Jahres” gewählt.

  

 

 

Teaserbild: Yves Bachmann