Sarah Kessler im Interview: “Meine Regel war, jeden Tag 1.000 Wörter zu schreiben.”

Sarah Kessler spricht im Interview über ihren Roman "Tradition Mord", über Femizide und Gewalt gegen Frauen und mit welcher Motivation sie ihren Debütroman geschrieben hat.

Sarah, dein Roman “Tradition Mord” handelt von Femiziden und Gewalt gegen Frauen, du erzählst aber auch eine berührende Familiengeschichte. Wie kamst du auf die Idee zu deinem Buch?

Sarah Kessler: Ich habe im Studium ein Praktikum bei einer Anwältin gemacht, die sich auf Migrations- und Familienrecht spezialisiert hat. Dort ist mir aufgefallen, dass viele der Frauen, die in ihrem Scheidungsprozess begleitet wurden, fast beiläufig von Gewalterfahrungen in der Ehe erzählt haben. Mich hat das ziemlich schockiert und ich habe angefangen, mich in das Thema einzulesen. Bei der Recherche bin ich immer wieder auf Stichworte wie “Ehrenmord” und “Clankriminalität” gestoßen und es hat mich nicht mehr losgelassen.

Durch die Recherche entstand dann der Wunsch, daraus einen Roman machen zu wollen?

Nach dem Praktikum war ich zwei Wochen im Urlaub. Da bekam ich die Idee zu der Geschichte und habe direkt mit dem Schreiben angefangen. Schreiben war immer schon mein Ventil, um Sachen zu verarbeiten, eigentlich eher für mich selbst. Als ich angefangen habe, hatte ich gar nicht das Ziel vor Augen, daraus ein Buch zu schreiben. Irgendwann bin ich in einen solchen Schreibfluss gekommen, so dass es einen ganz anderen Rahmen erreicht hat. Angefangen habe ich mit dem Prolog, der bis auf ein paar wenige Korrekturen genau das ist, was ich zuerst geschrieben habe.

 

“Viele Frauen, die in ihrem Scheidungsprozess begleitet wurden, haben fast beiläufig von Gewalterfahrungen berichtet. Das hat mich sehr schockiert.”

 

Sehr zentral in deinem Roman ist eine Gastarbeiter*innenfamilie. Wie hast du die Figuren und die Handlung entwickelt?

Ich war zu der Zeit des Schreibens mit einem Enkel von türkischen Gastarbeiter*innen verheiratet,  wo ich mit vielen Familienmitgliedern Gespräche geführt habe. Ich habe zum Beispiel viel Unterstützung von seinen Großeltern erfahren, die auch von meinem Schreibprojekt wussten. Die Figur der Staatsanwältin Frida lag durch mein Jurastudium auf der Hand. Die Handlung hat sich im Laufe des Schreibens sehr verändert. Ich habe sie grob vorgestrickt, aber es kamen immer wieder Abzweigungen, die ich nicht vorhergesehen habe und die alles verändert haben. Es war ein Prozess beim Schreiben.

Du beschäftigst du dich im Roman sehr intensiv mit Frauenmorden und wie diese Delikte im deutschen Strafrecht behandelt werden. Worum geht es dir dabei?

Im deutschen Strafrecht wird zwischen Totschlag und Mord unterschieden, wobei Mord die einzige Straftat ist, bei der es keinen Ermessensspielraum gibt. Für Verurteilte bedeutet das immer eine lebenslange Haftstrafe. Bei Totschlag gibt es einen gewissen Ermessensspielraum, wie lange die Haftstrafe abzusitzen ist. Deshalb macht es einen enormen Unterschied, ob man nach einer Tötung wegen Totschlags oder Mordes verurteilt wird. Es gibt bestimmte Kriterien, die einen Mord als solchen klassifizieren, z. B. sogenannte niedrige Beweggründe. Es gibt ein entscheidendes Urteil vom Bundesgerichtshof aus dem Jahr 2002, in dem festgesetzt wurde, dass Ehre ein niedriger Beweggrund ist. Wenn also ein Mensch einen anderen Menschen aus verletztem Ehrgefühl tötet, wird es als Mord klassifiziert. Das ist bei Eifersucht anders. Eifersucht gilt nicht als niedriger Beweggrund und Tötungen aus Eifersucht werden häufig als Totschlag verurteilt.

Es wurde oft bemängelt, dass das deutsche Strafrecht aufgrund patriarchaler Strukturen gegen Frauenmörder nicht konsequent genug vorgeht. Jetzt gibt es einen ersten Vorstoß im Land Brandenburg, dort wird an einem Antrag gearbeitet, den Begriff ‘Femizid’ strafrechtlich definieren zu lassen.  Denkst du, dass man den Femizid deutschlandweit ins Strafrecht aufnehmen sollte?

Ich denke nicht, dass es notwendig ist, den Femizid als alleinstehenden Straftatbestand in das Strafrecht aufzunehmen. Aber: wir brauchen dringend eine Definition des Begriffes „Femizid“, die es von der WHO übrigens schon gibt und der man sich einfach anschließen könnte. Doch dagegen wehrt sich die aktuelle Bundesregierung bisher. Eine solche Definition, ist jedoch unbedingt notwendig, um die Geschlechtsbezogenheit der Tötungen herauszustellen. Ein weiterer Schritt könnte in meinen Augen sein, diese dann als ein weiteres Mordmerkmal in das bestehende Recht mit aufzunehmen.

 

“Es war meine Intention, dass die Leser*innen sich selbst dabei erwischen, in die Vorurteilsfalle zu tappen.”

 

Im Buch ist es Johann Treibmann, der seine Frau Sadiye tötet. Er hat keinen muslimischen Hintergrund. Wolltest du damit auch Vorurteile durchbrechen?

Ja, das war mir relativ wichtig. Meine Intention war, dass die Leser*innen sich selbst vielleicht dabei erwischen, wie sie in die Vorurteilsfalle tappen. Es hätte so gut ins Bild gepasst, dieses Familienkonstrukt, bei dem die Ehre hätte gerettet werden müssen. Am Ende war es nicht der Vater oder der Bruder von Sadiye, sondern der Ehemann mit nicht-muslimischen Hintergrund.

Im Buch gibt es einen Angriff auf ein weiteres Familienmitglied. Die 25-jährige Aliye wird vor einem Hotel niedergestochen und kämpft im Krankenhaus um ihr Leben. Am Ende löst du nicht auf, wer es gewesen ist, das löst durchaus ein Gefühl der Unzufriedenheit aus…

Ich habe lange überlegt, ob ich es so mache, und habe mich dann letztlich dafür entschieden. Es wird so viel eingestellt und nicht verurteilt, weil einfach nicht hinreichend ermittelt wird oder weil es nicht genug Kapazitäten gibt. Das hat mich so frustriert bei der Recherche. Natürlich hat man das Bedürfnis zu erfahren, was passiert ist und will den Täter eingesperrt zu sehen, aber dieses Bedürfnis wird in den meisten Fällen von unserem Rechtsstaat nicht erfüllt.


Tradition Mord ist der Debütroman von Sarah Kessler. Es geht um Frida, eine junge Staatsanwältin, die mit dem Fall einer jungen Frau mit muslimischen Hintergrund zu tun hat, die vor einem Hotel niedergestochen wurde. Im Zuge der Ermittlungen erfährt sie mehr und mehr über die Familie der 25-jährigen Aliye und wird auf einen weiteren Fall aufmerksam, der 25 Jahre zurückliegt und bei dem Aliyes Tante Sadiye sterben musste.

Sarah Kessler erzählt die berührende Geschichte einer Gastarbeiter*innenfamilie, in deren Fokus die Schwestern Sabiha und Sadiye stehen. Sie beschäftigt sich aber auch mit dem Strafrecht und Strafmaß hinsichtlich von Frauenmorden.

“Tradition Mord” von Sarah Kessler, erschienen am 01.04.2021 im Hansanord Verlag


Deine Protagonistin Frida ist eine sehr ehrgeizige Staatsanwältin. Du studierst selbst Jura, kannst du dir vorstellen später als Anwältin in diesem Bereich zu arbeiten?

Ich konnte mir das sehr lange vorstellen, habe aber im letzten halben Jahr gemerkt, dass mir das Schreiben mehr Spaß macht. Aber Gewalt gegen Frauen ist ein Thema, das so wichtig ist und das ich immer aufgreifen werde. Ich plane eher, das als Autorin und Journalistin zu tun und nicht in einem klassischen juristischen Beruf.

Du hast erwähnt, dass dein Ex-Mann aus einer türkischen Gastarbeiter*innenfamilie stammte. Wie sehr hat dich das inspiriert?

Dass ich mich für eine türkische Familie entschieden habe und nicht für eine aus einem anderen muslimisch geprägten Land, liegt sicher daran, dass ich eine emotionale Verbindung hatte. Zu der Zeit habe ich mich noch als Teil der Familie definiert und mich schon lange vor dem Buch mit Diskriminierungsstrukturen beschäftigt, die typisch für Gastarbeiter*innenfamilien und Menschen mit Migrationshintergrund sind. Ich hatte durch meine Recherche auch die Möglichkeit, mit Leuten zu sprechen, die z. B. den Militärputsch in Ankara in den 80er Jahren miterlebt haben.

 

“Meine Regel war, jeden Tag 1.000 Wörter zu schreiben.”

 

Wie sah dein Schreibprozess aus?

Als ich mich entschieden habe, dass ich den Text zu Ende bringen möchte, war meine Regel, jeden Tag 1.000 Wörter zu schreiben. Und das habe ich durchgezogen. Wenn es nicht lief, dann habe ich mich gezwungen, irgendwas zu schreiben. Es kam nicht selten vor, dass ich es am nächsten Tag gelöscht habe, aber so bin ich im Prozess geblieben und habe die Figuren nicht verloren. Als ich nach einem Monat 30.000 Worte hatte, was ungefähr das halbe Buch ist, habe ich geahnt, dass daraus etwas werden könnte.

Das klingt sehr ambitioniert!

Es hat insgesamt schon ein knappes Jahr gedauert, bist der Text fertig war. Ich habe eben auch immer wieder Seiten gelöscht. Ich habe vielleicht anderthalb Stunden jeden Tag gearbeitet. Es gab aber natürlich auch Wochenenden, an den ich mich intensiver damit beschäftigt habe und den Text überarbeitet habe.

Viele Autor*innen brauchen Deadlines, damit sie Texte fertig schreiben. Wie hast du dich dafür motiviert?

Am Anfang musste ich mich überhaupt nicht motivieren, weil ich so euphorisch war. Immerhin war es das erste Mal, dass ich mir gesagt habe, ich probiere es mal. Als die erste Euphorie verflogen war, gab es schon Tage, an denen ich mich gefragt habe, was ich mir eigentlich antue. Ich wusste eben nicht, ob es was wird. Aber ich wollte es unbedingt zu Ende bringen.


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Wie hast du einen Verlag gefunden, der deinen Roman publiziert?

Ich hatte über eine Kollegin den Kontakt zu einem kleinen Verlag. Dieser Verlag hat mir schnell einen Buchvertrag angeboten, hat aber leider den ersten Lockdown finanziell nicht überlebt. Zu dem Zeitpunkt war ich schon so weit gekommen, dass ich unbedingt versuchen wollte, einen anderen Verlag zu finden.

Wie bist du vorgegangen?

Ich habe knapp 50 Verlage direkt angeschrieben, mit einem Exposé und einer Leseprobe. Über eine Agentur wäre es wahrscheinlich einfacher gewesen, aber im Endeffekt habe ich auf diesem Weg meinen jetzigen Verlag gefunden.

Hast du bereits ein neues Schreibprojekt, an dem du arbeitest?

Ich habe auf jeden Fall weitere Ideen, an denen ich teilweise auch bereits arbeite. Tradition Mord wird sicher nicht der letzte feministische Kriminalroman sein, den ich geschrieben habe. Doch die neuen Projekte stecken wirklich noch in Kinderschuhen, so dass bestimmt noch einige Monate ins Land gehen werden, bevor ich dazu mehr sagen kann.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für deine nächsten Schreibprojekte, liebe Sarah!

 

 

Sarah Kessler wurde 1993 in Kassel geboren. Aufgewachsen in Ostwestfalen und mit Zwischenstationen in Newcastle und Galway, zog es sie an die Universität Münster, um Politik zu studieren. Dort hat sie auch die Zusatzausbildung “Journalismus und Recht” absolviert und befindet sich gerade in ihrem Zweitstudium: Jura. Sie arbeitet als Autorin und Bloggerin.