Sonja, in deinem Roman “schuld bewusstsein” geht es um Anna und ihre Großmutter Rose-Marie, die als junge Frau überzeugte Nationalsozialistin war. Wie kam dir die Idee zu dem Roman?
Sonja Weichand: Schon als Kind fand ich die Frage interessant, was ich gemacht hätte, wenn ich zu der Zeit groß geworden wäre. Mir war es wichtig, darauf eine Antwort zu geben, die nicht so glatt ist, weil man ja total schnell den Gedanken annehmen kann, man selbst wäre natürlich im Widerstand gewesen.
Wieso wolltest du eine Figur wie Rose-Marie in deinem Roman haben?
Ich habe Rose-Marie absichtlich so konstruiert, dass sie aus der Ich-Perspektive erzählt. Das ist definitiv nicht einfach zu schreiben. Rose-Marie vertritt als Nationalsozialistin lauter Einstellungen, die aus heutiger Sicht schwer auszuhalten sind. Auch wenn sie eher eine Alltagstäterin ist. Ich fand es spannend und interessant, diese Figur auszuloten und an diese Schmerzgrenze ranzugehen.
Wie hast du dich dem nationalsozialistischen Gedankengut angenähert? Das war sicher nicht ganz einfach, oder?
Ich habe viel aus den Heften von “Glaube und Schönheit”, bei denen Rose-Marie Mitglied ist. “Glaube und Schönheit” war eine Organisation, die zwischen dem Bund Deutscher Mädel (bis 18 Jahre) und der NS-Frauenschaft (ab 21 Jahre) angesiedelt war. Ich habe viele von diesen Heften gelesen, zusätzlich dazu natürlich auch Zeitzeug*innenberichte. Aber gerade diese Sprache in den Heften war krass, da konnte ich teilweise Textstellen fast wörtlich übernehmen. Das ist natürlich schwer auszuhalten bei der Recherche.
Wenn man an den Nationalsozialismus denkt, hat man vor allem Männer vor Augen, die ihn geprägt und verbreitet haben. Du hast in deinem Roman eine junge Frau als Protagonistin, die von der Ideologie vollkommen eingenommen ist.
Das war mir tatsächlich ganz wichtig. Wenn man Literatur mag, dann kommt man um das Thema überhaupt nicht herum und das ist auch gut so. In der Schule wird es viel thematisiert. Das ist aber oft recht einseitig. Das habe ich auch im wissenschaftlichen Bereich gemerkt. Als ich versucht habe, Bücher über Frauen aus der Zeit zu finden, kam ich schnell an Grenzen. Frauen werden immer nur als die Frauen hinter den großen Männern gesehen.
“Nichts machen ist auch eine Form von Schuld.”
Oft denkt man, die Frauen hätten sich mit dem Nationalsozialismus nicht viel beschäftigt. Wolltest du mit deinem Roman auch Vorurteile brechen?
Ich finde schon, dass man sich auch damit beschäftigen muss, wie damals der Alltag funktioniert hat. Nichts machen ist auch eine Form von Schuld. Man denkt schnell, die Frauen hätten nicht anders gekonnt, weil sie sich vor allem um das Heim gekümmert haben. Aber gerade in Kriegszeiten wurde das System zu Hause von den Frauen aufrecht erhalten, darum geht es eben auch.
Wie man sieht, gibt es auch Frauen, die sich ideologisch im Nationalsozialismus wiedergefunden haben.
Gerade für junge Frauen war das interessant. Die dachten, es würde eine neue Zukunft anbrechen. Es steckte eben auch eine Idee von Emanzipation drin, die für uns heute befremdlich ist. Anerkennung dafür zu bekommen, dass man möglichst viele Kinder zur Welt bringt, war damals für Frauen durchaus ein reizvolles Konzept. Aus heutiger Sicht ist das natürlich nicht mehr nachvollziehbar.
Anna weiß von ihrer Oma Rose-Marie: Verantwortung ist der erste Schritt zur Wiedergutmachung einer großen Schuld. Rose-Marie war unter Hitler überzeugte Nationalsozialistin und Führerin beim BDM-Werk `Glaube und Schönheit`. Um ihre Geschichte aufzuarbeiten, reist Anna nach Würzburg. Sie will ein Buch über das Leben ihrer Großmutter schreiben. Doch die Leben der beiden Frauen verweben sich immer stärker ineinander: Was hat Rose-Marie im “Dritten Reich” getan? Welches Geheimnis steckt hinter der Geschichte von Annas Opa? Und was verschweigt sie sich selbst? Während 1945 alles unaufhaltsam auf den Untergang Würzburgs zusteuert, muss sich Anna in der Gegenwart ihren eigenen psychischen Abgründen stellen.
Ein Familienroman über das große Wort Schuld, Ideologien und die Befreiung davon, über das Hier und Jetzt von Verantwortung und über Liebe, die Generationen verbindet.
Konntest du dir für den Roman auch Inspiration aus deiner eigenen Familie holen?
Die Frage wird mir häufig gestellt. (lacht) Es kommt auch oft die Frage, ob es denn meine Geschichte sei, die ich im Roman erzähle. Was ich definitiv verneinen kann. Es ist alles fiktiv. Auch aus meiner Familie konnte ich da nicht wirklich Inspiration holen. Autobiografisch daran ist, wie mich selbst das Thema immer schon mitgenommen hat. Nicht ohne Grund ist es mein Debüt. Ich habe als Kind mal eine Kinder-Stadtführung in Würzburg gemacht, bei der erzählt wurde, dass 80 % der Stadt im Krieg zerstört wurde. Ich habe mich damals gefragt, wie so etwas passieren kann, wie es zu einem solchen Krieg kommen kann.
Welche Rolle spielt, dass das Buch in deiner Heimatstadt Würzburg angesiedelt ist?
Ich bin hier aufgewachsen und wieder hergezogen, kurz bevor ich angefangen habe, für das Buch zu recherchieren. Das war ganz praktisch. Aber es ist kein regionales Buch. Es könnte genauso auch in einer der anderen großen Städte spielen, die so heftig zerstört wurden, wie etwa Dresden. Aber es bot sich für mich natürlich sehr an, Würzburg zu wählen, weil ich die Verbindung bereits hatte.
Wenn man in Deutschland aufwächst, setzt man sich bereits in der Schule viel mit der Zeit auseinander. Wieso sollte man sich trotzdem noch damit beschäftigen?
Mein Buch bietet noch mal einen anderen Zugang an. Es macht einen Unterschied, ob man das Thema emotional an sich ran holt. Das habe ich mit dem Roman versucht. Wenn man etwas aus der Ich-Perspektive liest, dann berührt es einen ganz anders, als wenn man sich theoretisch damit beschäftigt. Die Rückmeldung bekomme ich z. B. auch von Schulklassen die das Buch lesen. Außerdem habe ich mit Entsetzen verfolgt, was in den letzten Jahren politisch passiert ist. Dass z. B. eine Partei im Bundestag sitzt, die offen gegen Migrant*innen hetzt. Allein deswegen sollte man sich immer wieder mit dem Thema auseinandersetzen, man sollte verstehen, was damals Furchtbares passiert ist und sich entschieden dagegen einsetzen.
Du hast dein Buch über “Books on Demand” veröffentlicht, eine Self-Publishing-Plattform. Magst du erzählen, wieso du diesen Weg gewählt hast?
Ich habe vorher Theaterstücke geschrieben und die auch bei Verlagen veröffentlicht. Mit diesem Roman habe ich zu Anfang der Pandemie versucht einen Verlag zu finden. Wer den Buchmarkt beobachtet hat, weiß, dass Debüts nach hinten verschoben wurden und die Verlage viel vorsichtiger waren, überhaupt jemanden Neues reinzuholen.
Du hast also damals keinen Verlag gefunden?
Genau. Ich habe mich dann für eine Self-Publishing-Plattform entschieden, mit der man sein Buch auf einem guten Niveau gestalten und veröffentlichen kann. Mir war es wichtig, ein professionelles Lektorat zu haben und jemanden, der mich bei der grafischen Umsetzung unterstützt, das hätte ich alleine nicht geschafft.
Wenn man sich damit beschäftigt, sieht man, dass eine Plattform wie “Books on Demand” spannende Möglichkeiten für Autor*innen bietet.
Der große Vorteil ist wirklich, dass man alles machen kann, wie man es möchte. Das kommt mir entgegen, da ich selbst organisiert bin und so etwas auch mag. Wenn man das kann oder mag, ist es auf jeden Fall eine schöne Möglichkeit. Klar, es wäre kein Buch von mir erschienen, dessen Titelbild ich nicht haben wollte.
“Beim Self-Publishing kann richtig gute Literatur entstehen.”
Begegnen dir trotzdem viele Vorurteile, was das Self-Publishing angeht?
Es ist schon schwierig mit einem Buch, das sich nicht eindeutig in die klassischen Self-Publisher-Kategorien einordnen lässt. Außerdem hat man kein Netzwerk dahinter, sondern muss sich alles selbst aufbauen und aktiv werden. Gleichzeitig hat man oft das Gefühl, dass dem Self-Publishing immer anheftet, man hätte es auf normalem Wege nicht geschafft. Als wäre es eine Qualitätseinbuße im Vergleich zum traditionellen Verlag. Dabei hat das ja auch immer damit zu tun, was man selbst für einen Anspruch hat. Wenn man einen hohen Anspruch an die Qualität hat und sich um ein professionelles Lektorat kümmert, dann kann beim Self-Publishing richtig gute Literatur entstehen.
Was bekommst du für Rückmeldungen?
Ich höre oft: ‘Dein Buch ist ja ganz toll, obwohl du es bei “Books on Demand” veröffentlicht hast.’ Ich weiß dann gar nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Die Lage war eben so und es war für mich damals ein ungünstiger Zeitpunkt, an den Buchmarkt heranzutreten.
Du hast anfangs erwähnt, dass du gerade an deinem zweiten Buch arbeitest. Kannst du schon sagen, worum es gehen wird?
Es wird thematisch etwas ganz anderes. Ich kann schon mal so viel verraten, dass es eine Dystopie wird. Es spielt in der Zukunft und beschäftigt sich mit den Themen Berührung und virtuelle Realität. Auch wenn das erste Buch in der Vergangenheit gespielt hat, habe ich mich trotzdem bei der Recherche damit beschäftigt, wie wir gesellschaftlich zusammen leben und wie wir in der Zukunft zusammen leben wollen. Hier liegt die Überschneidung mit dem neuen Roman.
Klingt echt interessant.
Es gibt sehr viele Bücher, die unterschiedliche Sinne besprechen. Berührung ist ein Thema, vor dem Menschen noch ein bisschen Respekt haben und dem sie sich nicht unbedingt zuwenden wollen. Aber gerade weil es eine Art Tabu darstellt, finde ich es spannend.
“Wenn ich im Schreibprozess drin bin, habe ich kein Problem damit, genug abzuliefern.”
Hast du Routinen, die dir beim Schreiben helfen?
Eigentlich habe ich einen ganz normalen Arbeitsalltag. Wenn ich ein Projekt habe, dann bin ich morgens relativ früh am Schreibtisch, setze mich hin und leg los.
Setzt du dir Schreibziele?
Überhaupt nicht. Wenn ich an einem Projekt arbeite, habe ich eine Art inneren Antrieb, das zu erzählen, was ich erzählen will. Wenn ich im Schreibprozess drin bin, habe ich kein Problem damit, genug abzuliefern.
Ganz lieben Dank für das Gespräch und viel Erfolg mit deinem zweiten Roman!
Sonja Weichand, geboren 1984, studierte an der Universität Würzburg Germanistik und Geschichte. Als Regieassistentin und Regisseurin arbeitete sie sechs Jahre lang am Theater Augsburg, Theater Vorpommern sowie in freien Projekten. Als wichtige Station erlebte sie ihre Zeit in Berlin, in der sie sich als Autorin selbstständig machte. In den folgenden Jahren erschienen vier ihrer Theaterstücke im Hofmann-Paul-Verlag und deutschen theater verlag. Heute lebt sie wieder in ihrer Heimatstadt und arbeitet als Dozentin für Literarisches Schreiben an der Universität Würzburg. Neben Theaterstücken schreibt sie Gedichte, Kurzgeschichten und Satire. “schuld bewusstsein” ist ihr Debütroman.
Teaserbild: Nico Manger
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