Nadine, vor kurzem ist dein zweiter Roman “Wohin ich immer gehe” erschienen. In dem Buch geht es um Johannes, der im kommunistischen Rumänien aufwächst und die Flucht wagt.
In meinem ersten Roman “Drei Kilometer” ging es um die letzten Monate des kommunistischen Regimes in Rumänien, kurz vor dem Sturz Ceaușescus. Mit dem zweiten Buch “Wohin ich immer gehe” habe ich diesen Kosmos ein bisschen erweitert. Es gibt Szenen, die in der Zeit des Kommunismus spielen, in der Kindheit und Jugend meines Protagonisten Johannes. Es geht aber auch um seine Flucht und um das Ankommen und Sesshaftwerden in Deutschland. Somit ist es auch eine Auswanderungsgeschichte.
Was hat dich zu diesem Buch inspiriert?
Dass ich über das rumänische Banat schreibe, hat einen familienbiografischen Hintergrund, da meine Familie aus der Gegend stammt. Ansonsten habe ich eigentlich keine konkreten Inspirationsquellen. Ich bin immer froh, wenn ich einen Initialmoment beim Schreiben habe. Die allererste Szene, die ich im Kopf hatte, war die, in der Johannes durch einen Brief erfährt, dass sein Vater gestorben ist und weiß, dass er nach Rumänien zurückkehren muss. Oft merke ich dann, dass an dieser Figur eine Stimme hängt, der ich folgen kann. Dass sich daraus eine Geschichte ergibt, die mich über längere Zeit begleiten kann.
Am Anfang des Buchs beschreibst du, wie Johannes nachts die Donau durchschwimmt. Die Szene ist sehr stark und zieht einen sofort mitten in die Geschichte hinein. Wieso hast du die Szene so gestaltet?
Menschen sind auf verschiedenste Weise aus Rumänien geflüchtet. Viele haben den Weg über die Donau am Eisernen Tor genommen. Die Vorstellung, diesen breiten Fluss schwimmend oder in Schlauchbooten zu überqueren, fand ich immer unfassbar erschreckend. Ich habe viele Erfahrungsberichte von Menschen gelesen, die diesen Fluchtweg gewagt und überlebt haben. Über die Recherche habe ich mich dann letztendlich ran getraut, diese Szene zu schreiben.
“Es ist schlimm, dass homosexuelle Menschen unter Ceaușescu keine Identität hatten, es galt sogar als Straftat homosexuell zu sein.”
Johannes geht nach Deutschland und macht dort später eine Ausbildung. Wie hast du deinen Protagonisten entwickelt?
Ich habe Johannes beim Schreiben entwickelt. Ich wusste nicht von Anfang an, wer Johannes ist, was ihn ausmacht und welche Figuren zu ihm gehören. Auch seinen Beruf habe ich nicht von Anfang an gewusst. Das hat sich alles mit der Zeit ergeben. Ich wusste früh, dass es in seiner Familie eine vererbte Schwerhörigkeit gibt. Beim Schreiben wurde mir dann bewusst, dass es passen würde, wenn er Hörgeräteakustiker wird. Dadurch, dass Johannes Menschen hilft, besser hören zu können, setzt er dem Nicht-Hören (wollen) seiner Familie etwas entgegen.
Johannes’ erste Liebe in Rumänien war David, ein Junge aus seinem Heimatdorf. Welche Rolle spielt diese Liebe für dich?
Mir war relativ früh klar, dass Johannes bei der Flucht eine Person zurücklassen muss, die er liebt. Dass diese Person ein Mann ist, war eher Zufall. Ich habe angefangen mich mit Homosexualität im kommunistischen Rumänien zu beschäftigen. Was denkbar schwierig ist, weil das Thema immer noch nicht besonders gut aufgearbeitet ist, die Schicksale homosexueller Menschen im Kommunismus waren und sind zum Teil noch immer wie ausgeklammert aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis. Es ist schlimm, dass homosexuelle Menschen unter Ceaușescu im Grunde keine Identität hatten, es galt sogar als Straftat homosexuell zu sein. Der Artikel 200, der Homosexualität unter Strafe stellte, wurde erst 2001 abgeschafft.
In deinem Buch wird David später einfach weggebracht. Es bleibt ein ungutes Gefühl zurück, weil man nicht weiß, was passiert ist.
Das wollte ich bewusst im Dunkeln lassen. Es ist unklar, ob die Familie etwas damit zu tun hat oder ob er im Gefängnis landet. Johannes bringt sich mit dem Versuch, etwas herauszufinden, selbst in Gefahr. Er weiß, dass irgendwas passiert ist, aber er hat nicht die Mittel herauszufinden, was genau. Die Liebesgeschichte von Johannes und David hat viel mit Verbergen und Schweigen zu tun, vieles wird nur angedeutet. Ich hatte immer das Gefühl, dass das Wegschauen, nicht wissen wollen, nicht darüber sprechen wollen ein ganz starker Sog dieser Geschichte ist.
Auch von Johannes’ Familie gibt es keinerlei Unterstützung oder Reaktion.
Ich habe bei der Recherche erfahren, dass natürlich versucht wurde, Familienmitglieder zu schützen. Aber es gab auch ganz andere Geschichten. Es gab Familien, die ihre Kinder einfach verheiratet haben, weil sie sich gedacht haben, dadurch würde sich eine angebliche “Neigung” wieder legen. Oder sie wollten nichts mehr mit ihren Kindern zu tun haben. Wie Familien in solchen Situationen reagieren, hat mich natürlich umgetrieben, weil Familie eine große Rolle in Johannes Leben spielt.
Nadine Schneider schreibt in ihrem Roman “Wohin ich immer gehe” sehr berührend über einen jungen Mann, der in den 1980er Jahren aus Rumänien flieht und nach Deutschland geht.
Hier geht es zur kompletten Rezension: Nadine Schneider – Wohin ich immer gehe
Johannes lebt mit seiner Familie in einem kleinen Dorf. Dort herrscht eine sehr beklemmende Atmosphäre.
Das dörfliche Leben im kommunistischen Regime hatte etwas sehr Einengendes. Die Zukunftsperspektiven waren sehr limitiert. Das Leben der Menschen drehte sich in kleinen Kreisen. Bei Johannes kommt erschwerend hinzu, dass seine Familie innerhalb des Dorfs auch kein Ort der Sicherheit ist. Der Bruder stirbt früh, der Vater ist starker Alkoholiker. Das Leben dort zeigt viele ungute Strukturen: Das Schweigen, das abschätzige Beobachten, das nicht Zuhören, das Unterdrücken echter Gefühle.
Es gibt einige Szenen, in denen der donauschwäbische Dialekt gesprochen wird. Wie hast du dich dem angenähert?
Ich spreche den Dialekt selbst nicht. Es gibt ein Wörterbuch dieser Mundart, damit habe ich mir versucht zu helfen. Es gibt Heimatvereine, in denen Menschen aus dem Banat zusammenkommen. Diese Vereine haben Publikationen, in denen Geschichten, Anekdoten oder Gedichte veröffentlicht werden, die teilweise im Dialekt geschrieben sind. Davon habe ich mich inspirieren lassen. Damit alles einen einheitlichen Ton bekommt, habe ich meine Großeltern, die den Dialekt noch sprechen, um Hilfe gebeten. Ich habe mich mit ihnen hingesetzt und sie übersetzen lassen. Das hat echt Spaß gemacht und mich hat es gefreut, dass sie ihren Teil zum Buch beitragen konnten.
Planst du deine Handlung im Voraus oder entwickelst du sie spontan?
Ich scheue mich eher, mir vorher viel zu notieren oder zu planen. Das hemmt mich eher. Meistens setze ich mich hin und schaue, was an Output kommt. Wenn sich alle Puzzleteile zusammengefügt haben, kann man immer noch in der Überarbeitung an der ein oder anderen Stelle konkreter werden oder eine Drehung in der Handlung machen.
“Ab einem gewissen Punkt fühle ich mich meinen Figuren verpflichtet, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen.”
Hast du bestimmte Schreibroutinen, die es dir erleichtern dranzubleiben?
Ich arbeite nebenbei in Teilzeit und diese Arbeit ist quasi meine Routine. Das Schreiben findet immer dann statt, wenn ich den Kopf frei habe. Wenn meine Projekte in einem fortgeschrittenen Stadium sind, lasse ich mich meistens von den Figuren und der Geschichte an sich motivieren. Ab einem gewissen Punkt fühle ich mich meinen Figuren verpflichtet, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen.
Dein zweites Buch ist ca. anderthalb Jahre nach deinem Debüt erschienen. Eine relativ kurze Schreibzeit, oder?
Beim zweiten Buch wirkt es nur so, als hätte ich es schnell geschrieben, weil es so kurz nach dem ersten erschienen ist. Das hat aber damit zu tun, dass ich bereits am zweiten geschrieben habe, als ich mit dem ersten auf Verlagssuche war. Eine der ersten Szenen, die zu “Wohin ich immer gehe” gehört, habe ich schon 2017 geschrieben.
Wie hat sich deine Verlagssuche gestaltet?
Ich war im Literaturhaus München im Rahmen der Bayerischen Akademie des Schreibens Stipendiatin eines Romanseminars. Man trifft sich über ein Jahr hinweg mit einer Gruppe von Menschen, die alle an einem Romanprojekt arbeiten. Die Seminare werden immer von einem Lektor*innen/Autor*innen-Duo geleitet und in meinem Fall hat das Seminar mein jetziger Lektor geleitet. Am Ende des Jahres war ich schon ziemlich weit mit dem Manuskript. Mein Lektor war interessiert und meinte, ich solle ihm das mal schicken und so hat es geklappt. Dass ich ohne Agentur einen Verlag gefunden habe, war wirklich ein Glücksfall.
Hast du schon ein nächstes Buchprojekt?
Ich arbeite ganz lose an etwas. Das ist aber so frisch, dass es auch schief gehen könnte. (lacht) Aber es trägt mich ein bisschen durch die Zeit nach der Veröffentlichung des zweiten Buchs. Ich finde es immer ganz gut, dass man die Phantomschmerzen kompensieren kann, die man hat, wenn das veröffentlichte Buch “weg” ist. Ob was aus der neuen Idee wird, wird sich mit der Zeit zeigen.
Ganz lieben Dank für das spannende Gespräch und viel Erfolg für dein weiteres Schreiben!
Nadine Schneider, geboren 1990 in Nürnberg, lebt in Berlin. Ihr erster Roman „Drei Kilometer” (2019) wurde unter anderem mit dem Hermann Hesse Förderpreis und dem Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet. 2021 las sie auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant beim Ingeborg-Bachmann-Preis. „Wohin ich immer gehe” ist ihr zweiter Roman.
Nadine Schneider studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Cremona und Berlin. Berufliche Stationen führten sie unter anderem an die Komische Oper und an die Vaganten Bühne Berlin. Derzeit arbeitet sie für den Bundeswettbewerb Gesang.
Alle Fotos im Beitrag: Laurin Gutwin
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