Iris Blauensteiner – Atemhaut
Edin arbeitet bei einem Versanddienstleister und macht dort die Pakete fertig, ein Job, mit dem er komplett verwachsen ist. Auch wenn es kein Traumjob ist, ist er glücklich mit seiner Tätigkeit, er mag die Sicherheit und Routine, die seine Arbeit ihm gibt. Mit seiner Freundin Vanessa wohnt er in einer kleinen Wohnung (21 qm) und hat ganz konventionelle Träume, wie Geld zur Seite zu legen, irgendwann eine größere Wohnung oder eine Familie zu haben.
Dann der Schock: Er wird gekündigt. Sein wohlgeordnetes Leben gerät aus der Bahn. Ironischerweise wird zur selben Zeit seine Freundin befördert und zur Teamleiterin gemacht, was seine eigene Misere noch mal verstärkt. Edin meldet sich arbeitslos, schickt Bewerbungen raus, wartet auf Antworten. Als eine Einladung zu einem Gespräch kommt, geht er nicht hin.
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Blauensteiner erzählt feinsinnig und mit ihrer eigenen Poesie
Iris Blauensteiner erzählt feinsinnig und mit ihrer eigenen Poesie, der sie etwas maschinelles beigibt, einen unverkennbaren Rhythmus. Obwohl die Handlung mindestens 20 Jahre zurückliegt, scheint sie doch weit vorzugreifen. Sie erschafft eine interessante Betrachtung des Menschen im Zusammenspiel mit der Arbeitswelt. Die Autorin zeigt den Weg eines stringenten Abstiegs, der durch nichts aufhaltbar scheint, bei dem der Verlust des Jobs auch zum Verlust des kompletten Lebenssinns führt, in eine Schockstarre leitet. In meinem Kopf hat der Roman spannende Fragen erzeugt: In welchem Ausmaß definiert sich der Mensch über die Arbeit? Was ist der Mensch ohne Arbeit wert? Was ist der Mensch überhaupt in unserem Zeitalter?
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Eine fluoreszierende Parabel auf die Welt, in der wir heute leben
Atemhaut ist eine fluoreszierende Parabel auf die Welt in der wir heute leben bzw. in Zukunft leben werden. Ein Gleichnis für den Sinnverlust (oder unser übersteigertes Verlangen nach Sinn?) und für die Irrationalität, die uns beherrscht, und ich habe das Buch mit dem Gefühl zugeschlagen, dass hier noch viel mehr drin steckt, als man direkt ergreifen kann.
Die Künstlerin Rojin Sharafi hat einen Soundtrack zum Roman beigesteuert, den man per QR-Code in den einzelnen Kapiteln abscannen kann.
“Atemhaut”
Iris Blauensteiner
Kremayr & Scheriau
Erschienen am 14. März 2022